Identität ist für den Menschen essenziell, da sie das Gefühl vermittelt, zu wissen, wer man ist, wo man herkommt und welchen Platz man in der Welt einnimmt. Eine stabile Identität ermöglicht es, im Leben Orientierung zu finden, Entscheidungen zu treffen und gesunde Beziehungen zu gestalten. Sie bildet die Basis für das Selbstwertgefühl und die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen.
Pflegekinder stehen oft vor Herausforderungen, die andere Kinder nicht kennen. Ihre Lebensgeschichten sind geprägt von Brüchen, Unsicherheiten und manchmal auch traumatischen Erlebnissen. Das wirkt sich direkt auf ihre Identitätsbildung aus. Aber keine Sorge: Mit den richtigen Ansätzen können Pflegekinder ihre Vergangenheit annehmen, ihr Selbstbewusstsein stärken und eine stabile Identität entwickeln.
In diesem Artikel schreibe ich darüber, warum Pflegekinder oft mit ihrer Identität ringen, welche Auswirkungen das haben kann und – am wichtigsten – was sie brauchen, um ein klares Selbstbild zu entwickeln.
Warum haben Pflegekinder oft Schwierigkeiten mit ihrer Identität?
Pflegekinder tragen Belastungen mit sich herum. Der Grund liegt in ihrer Lebensgeschichte und den Erfahrungen, die sie schon als kleine Kinder machen mussten.
Der Abschied von den leiblichen Eltern ist für ein Kind schwer zu begreifen und hinterlässt Fragen, die am Selbstwert nagen: „Warum konnte meine Familie nicht für mich sorgen?“ Diese Ungewissheit und das Gefühl von Verlassenheit begleiten sie häufig noch lange Zeit.
Hinzu kommen oft Lücken in der Herkunftsgeschichte. Manche Pflegekinder wissen kaum etwas über ihre Vergangenheit oder die Gründe, warum sie nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen konnten. Die wenigen Informationen, die sie erhalten, sind oft widersprüchlich oder schmerzhaft. Fragen wie „Wer waren meine Eltern?“ oder „Was ist damals wirklich passiert?“ bleiben häufig unbeantwortet und erschweren es, ein vollständiges Bild der eigenen Geschichte zu entwickeln.
Loyalitätskonflikte stellen ein weiteres Problem dar, mit dem Pflegekinder konfrontiert werden können. Sie fühlen sich oft hin- und hergerissen zwischen ihrer Herkunftsfamilie und der Pflegefamilie. Das kann zu einem Gefühl führen, nirgendwo wirklich dazuzugehören. Einerseits verspüren sie eine natürliche Bindung und Loyalität gegenüber ihren leiblichen Eltern, andererseits wissen sie, dass die Pflegefamilie sie unterstützt und schützt. Dieses Spannungsfeld macht es schwer, inneren Frieden zu finden und ein klares Selbstbild zu entwickeln. In dieser Situation spielt das Verhalten der beteiligten Erwachsenen eine entscheidende Rolle. Je mehr der Kontakt zwischen den Familien von Respekt und Wohlwollen geprägt ist, umso weniger fühlt ein Pflegekind sich dazu gedrängt, sich für eine der beiden Seiten entscheiden zu müssen.
All diese Herausforderungen – Verlust, unvollständige Informationen über die eigene Geschichte und Loyalitätskonflikte – machen es Pflegekindern schwer, eine stabile Identität zu entwickeln.
Ohne Unterstützung laufen sie Gefahr, ein unsicheres oder fragmentiertes Selbstbild zu entwickeln, das sie auch im Erwachsenenalter begleiten wird.
Was sind Folgen einer instabilen Identität?
Wenn Pflegekinder keine Unterstützung bei der Identitätsfindung bekommen, können die Folgen gravierend sein:
- Unsicherheiten: Sie wissen nicht genau, wer sie sind oder wo sie hingehören. Sie hinterfragen viele Situationen und suchen nach versteckten Deutungsmöglichkeiten. Angst vor Unvorhersagbarem und Ungewissheit werden zum Dauerthema und dominieren die Wahrnehmung, so dass eine negative Weltsicht oft Begleiter einer instabilen Identität ist.
- Geringes Selbstwertgefühl: Das Gefühl, nicht genug zu sein, begleitet viele Pflegekinder ein Leben lang. Es entwickeln sich Lebenshaltungen, in denen sie die eigenen Bedürfnisse aus den Augen verlieren („ich bin nur liebenswert, wenn ich immer alles mache, was man mir sagt/ wenn ich möglichst unsichtbar bin und keine Umstände mache“) oder die in Gesellschaft nicht gut funktionieren („ich nehme mir, was ich brauche/ ich muss kräftig auf den Putz hauen, um bemerkt zu werden“)
- Beziehungsprobleme: Pflegekinder erleben oft instabile oder unzuverlässige Beziehungen, die ihr Grundvertrauen in andere Menschen und in sich selbst erschüttern. Diese Bindungsunsicherheiten erhöhen das Risiko, sich im Laufe des Lebens einsam, wertlos oder nicht geliebt zu fühlen – klassische Risikofaktoren für Depressionen. Schwierigkeiten, Vertrauen aufzubauen, wirken sich später dann oft auf Freundschaften und Partnerschaften aus. Stabile Beziehungen zu führen kann für diese Menschen schwierig werden und braucht viel Verständnis auf Seiten der Beziehungspartner.
- Fragmentierte Identität: Die eigene Geschichte fühlt sich wie ein Puzzle an, bei dem wichtige Teile fehlen. Oft fühlen Pflegekinder dann eine gewisse Haltlosigkeit oder Leere. In den Lücken kann sich Gutes wie Schlechtes verbergen. Das regt zum Interpretieren an, nährt aber auch Ängste vor dem darin Versteckten. In jedem Falle nützen die Lücken nicht, daraus einen Mehrwert für das Selbstbewusstsein zu ziehen. Eher im Gegenteil.
Die gute Nachricht: Mit den richtigen Werkzeugen können Pflegekinder diese Schwierigkeiten überwinden.
Was brauchen Pflegekinder, um eine gesunde Identität zu entwickeln?
1. Sichere und stabile Beziehungen
Pflegekinder brauchen Menschen, die für sie da sind – immer und ohne Bedingungen. Pflegeeltern, die verlässlich und einfühlsam sind, schaffen die Grundlage dafür, dass ein Kind Vertrauen aufbauen und sich sicher fühlen kann. Bindungsstörungen können heilen und der Glaube an Verlässlichkeit wieder entstehen.
2. Offenheit für die Herkunftsgeschichte
Die Herkunftsfamilie ist ein zentraler Bestandteil der Identität eines Pflegekindes. Hilf dem Kind, seine Geschichte zu verstehen, ohne sie zu beschönigen oder abzuwerten. Das Kind kann seine Wurzeln nicht leugnen und wird wesentlich davon profitieren, wenn es darauf auch stolz sein kann – trotz der Umstände, die zur Trennung von den Eltern geführt haben.
3. Wertschätzung beider Familien
Das Kind sollte das Gefühl haben dürfen, sowohl die Herkunftsfamilie als auch die Pflegefamilie wertschätzen zu können. Abwertungen oder Tabus führen zu Loyalitätskonflikten und erschweren die Identitätsbildung. Biografiearbeit und im Zuge dessen der Austausch zwischen Pflegefamilie und Herkunftsfamilie kann dabei ein wertvolles Werkzeug sein.
4. Erfolgserlebnisse
Pflegekinder haben oft erlebt, dass Erwachsene gravierende Entscheidungen für ihr Leben treffen, und mussten mit den Konsequenzen leben. Ein starkes Bedürfnis danach, Kontrolle über das eigene Leben zu haben, zeigt bei einigen Pflegekinder starke Ausprägungen. Sie profitieren daher enorm von positiven Erlebnissen, die ihnen zeigen, dass sie etwas bewirken können. Das stärkt den Selbstwert und gibt ihnen das Gefühl, das eigene Leben mitgestalten zu können.
5. Unterstützung bei der Traumabewältigung
Fast alle Pflegekinder haben Erlebnisse hinter sich, durch die sie – abhängig von der persönlichen Krisenfestigleit (Resilienz) – mehr oder weniger traumatisiert wurden. Traumatische Erfahrungen dürfen nicht ignoriert werden. Professionelle Hilfe kann das Kind dabei unterstützen, schmerzhafte Erlebnisse zu verarbeiten und sich auf die Gegenwart zu konzentrieren.
6. Raum für Individualität
Kinder brauchen die Freiheit, ihre eigene Persönlichkeit zu entdecken – ohne ständig Erwartungen erfüllen zu müssen. Pflegekinder zeigen in ihrer Entwicklung gehäuft Verhaltensweisen oder Neigungen, die erstmal ungewohnt erscheinen. Auch Diagnosen wie ADHS und FAS (Fetales Alkoholsyndrom) äußern sich in Besonderheiten, mit denen die Kinder in der Gesellschaft schnell mal anecken. Es ist wichtig, den Kindern das Gefühl zu geben, dass sie so in Ordnung sind, wie sie sind. Therapie ist dazu da, sie dabei zu unterstützen mit schwierigen Situationen umzugehen, die daraus entwachsen und zu lernen, welche Konsequenzen das eigene Verhalten haben kann. So können sie selbst entscheiden, welche Veränderungen es im Leben anstrebt, was ihm wichtig ist und wie es sein Leben gestalten möchte.
7. Liebevolle Bestärkung
Manchmal reicht ein einfaches: „Ich glaube an Dich.“
Pflegekinder brauchen Menschen, die an ihrer Seite stehen, sie ermutigen und ihnen zeigen, dass sie wertvoll sind – unabhängig von ihrer Geschichte. Sie brauchen einen Ort, an dem sie sich nicht ständig erklären oder anpassen müssen, sondern langsam wachsen können.
Die Reise lohnt sich!
Pflegekinder haben es nicht leicht – aber sie sind unglaublich stark und haben großes Potenzial. Mit Verständnis, Unterstützung und viel Geduld können Pflegeeltern dazu beitragen, dass diese Kinder ihre Identität finden und zu selbstbewussten Erwachsenen heranwachsen.
Die Reise mag manchmal holprig sein, aber sie lohnt sich. Für das Kind und für die Pflegefamilie, und für eine Zukunft, in der „Ich bin, wer ich bin.“ zur positiven Grundeinstellung wird.