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Über einen Holzlöffel und wie ich meiner Oma verzeihen konnte.

    Was von all dem übrig blieb - ein Löffel und Geschichten

    Heute habe ich im Hühnerfrikassee gerührt, ganz versonnen – mit einem alten Holzlöffel, der einst meiner Ur-Ur-Großmutter Lina gehörte. Und dabei dachte ich an sie, und was sie mit dem Löffel wohl alles so gerührt hat.
    Ursprünglich gehörte zum Löffel noch ein alter Milchtopf aus Steingut – weiß mit blauen Punkten. Dessen Henkel war schon längst ab gewesen, als ich vor Jahrzehnten meine Oma beobachtete, wie sie darin Stärke und Wasser verrührte, um die Königsberger Klopse zu binden. Das Leibgericht meines Opas.

    Anna Lina

    Meine Ur-Ur-Großmutter Lina wird 1871 in Zschopau als zehntes Kind in einen kleinen Strumpfwirkerhaushalt geboren. Sie führt ein entbehrungsreiches Leben mit wenig Raum für Träume.
    Mit 23 heiratet sie Emil, und beide ziehen mit wenig Geld viele Kinder groß. Tatsächlich reicht oft das Essen nicht für alle. Eine der kleineren Töchter wird deshalb in eine andere Familie gegeben – wahrscheinlich die einzige Lösung, die in dem Moment übrig bleibt. Erna heißt die Kleine, und wird von der Kaufmannsfamilie „ausgesucht“, weil sie so hübsch und brav ist.
    Wie entscheidet man so etwas – und mit welchen Gefühlen lebt man weiter?
    Ich weiß es nicht. Aber ich frage mich oft: Wie war das für die beiden und die Geschwister der Kleinen?

    Das Leben geht weiter, bis Emil mit über 40 Jahren in den Krieg nach Frankreich muss.
    Er kommt auch wieder zurück, aber er ist so krank, dass er bald darauf stirbt.
    Lina ist jetzt 48 Jahre alt und plötzlich alleine für sechs Kinder zuständig. Sie hat keinen Beruf, und sie ist zu dem Zeitpunkt schon fast blind.

    Helene Lina

    Das älteste Mädchen im Haushalt heißt Helene, meine Urgroßmutter.
    Mit 17 Jahren wird sie zur Stütze der Familie, arbeitet in der Strumpffabrik am Ort und kümmert sich um die jüngeren Geschwister.
    Sie liebt das Leben, hat ihren eigenen Kopf, einen gewissen Ruf.
    Es ist etwa 1920, als sie Walter kennen lernt, der für den Ausbau der befestigten Straßen aus der nahen Großstadt zuständig ist. Das kleine Haus, in dem Helene wohnt, steht ganz in der Nähe der neuen Straße, und Walter holt sie immer wieder mal mit seinem Motorrad ab. Das muss aufregend für sie gewesen sein, stelle ich mir vor.
    Als Helene einige Zeit später ein Kind bekommt, will – oder darf – Walter sie nicht heiraten. Aber er will auch nicht sang- und klanglos verschwinden. Er will seine Tochter sehen und die beiden unterstützen, doch Helene ist verbittert und unterbindet den Kontakt.

    Lina mit ihren zwei Schwestern, davor sitzend Anna Lina und meine Oma.

    Anna Lina mit ihren drei Töchtern Helene, Marianne und Erna und meiner Oma auf der Wiese hinter dem Haus.

    Oma Hildegard

    Das Kind ist meine Oma. Sie wird noch einige Jahre gemeinsam mit ihrer Mutter bei ihrer Großmutter Lina bleiben, bis Helene doch noch heiratet. Da ist Hildegard schon elf Jahre alt. Mit ihrem Stiefvater wird sie nie so recht warm werden, aber sie ist ihm zeitlebens dankbar, dass er ihr seinen Namen gegeben und somit offiziell „legitimiert“ hat.
    Das Stigma trägt sie dennoch emotional ihr Leben lang mit sich herum: Unehelich. Unerwünscht. Makelhaft.

    Von ihrer Mutter, sagte sie, kam wenig Fürsorgliches. Wenn mal Geld da war, verschwand es schnell – für Genuss, für Schönes und für das gute Leben. Nur selten für sie. Oft musste sie zurückstecken, weil ihre Mutter über ihre Verhältnisse lebte, und es dann nicht mehr für das Nötige reichte. Ihre Unzulänglichkeiten versuchte sie dann ihrer Tochter und anderen gegenüber mit „Geschichten“ zu erklären, die selten ganz wahr waren. Oft fühlte sich meine Oma als „Tochter dieser Frau“ nicht wohl in der Gesellschaft.

    Und dann war wieder Krieg, und zum ersten Mal: Freiheit.

    Der Sprung in unbekanntes Gewässer

    So irritierend das klingt – für meine Oma beginnt jetzt die beste Zeit ihres Lebens: als BDM-Helferin auf einem großen Hof und später als Bahnschaffnerin in Kattowitz. Weit weg vom Stigma. Nur sie selbst sein. Ohne ihre Geschichte. Arbeiten und mit den Freundinnen in einer Art WG wohnen. Nur manchmal, wenn diese kleine Päckchen mit Leckereien und netten Botschaften von ihren Familien bekommen, fühlt sie sich wieder benachteiligt.
    In den wöchentlich vom BDM organisierten „Heimatabenden“ schreibt sie Briefe an Soldaten, die sich im Lazarett von schweren Verletzungen erholen.
    Einer antwortet: Mein Opa. Lungendurchschuss in Weißrussland, Erholung im Harz. Große Worte, zarte Hoffnung und schnelle Entscheidungen.

    Mit diesem Mann scheint das bessere Leben mit der eigenen kleinen Familie und einem neuen Lebensgefühl greifbar nahe. Die beiden verlieben sich, erwarten 1944 ein Kind und heiraten mit besonderer Erlaubnis der Behörden noch kurz bevor Willi wieder an die Front muss.
    Als Aussteuer bekommt Oma das Wenige, was die Familie beschaffen oder entbehren kann: gebrauchte Dinge, Babykleidung und Wäsche – und von ihrer Oma Lina einen gepunkteten Milchtopf ohne Henkel und einen Holzlöffel.

    ein stark gebrauchter Holzlöffel auf grauem Filz

    Ein ungeplanter Neuanfang

    1945, wie ein Gongschlag genau zum Ende des Krieges am 08. Mai, kommt meine Mama zur Welt – und mein Opa in Kriegsgefangenschaft.
    Meine Oma ist noch im Wochenbett, als russische Soldaten ins Dorf kommen. Alle Bewohner fliehen in die Wälder, nur sie bleibt mit dem Baby zurück und muss furchtbare Angst aushalten, während Soldaten unten durchs Erdgeschoss rumpeln.
    Sie erwartet das Schlimmste, als zwei Soldaten ihr Zimmer betreten!
    Doch sie sind freundlich. Einer ist verwundet und lässt sich von der jungen Frau verbinden, während der andere das Baby liebkost.
    Die ganze Zeit über weiß meine Oma ganz genau, was russische Soldaten nur wenige Monate vorher in der Heimat ihres Mannes an Gräueltaten angerichtet hatten.
    Sie hat Glück – und später sagt sie darüber, die „Russen hätten sich wohl schon in Ostpreußen ausgetobt gehabt“.

    Ein Jahr später reist sie mit all ihren Sachen und meiner Mutter auf dem Arm in eine neue Zukunft. Der Plan, mit ihrem Mann ein Zuhause in seiner Heimat an den schönen masurischen Seen zu schaffen, war gestorben.
    Die neue Adresse: ein Haus, das einem Kriegskameraden ihres Mannes gehört, in einem kleinen Ort im Süden Deutschlands. Die Adresse hat Willi in der Gefangenschaft als Heimatadresse angegeben – weil er kein anderes Zuhause mehr hatte.
    Dort wartet sie, zusammen mit ihrer kleinen Tochter, auf seine Rückkehr und darauf, aus dem Nichts wieder etwas zu erschaffen. Und das schaffen sie.

    Die Suche nach dem unbekannten Vater

    Jahrzehnte später suche ich, die jüngste ihrer Enkel, nach ihrem leiblichen Vater: Walter.
    Oma erzählt davon, dass sie als Kind mal von jemandem gehört habe, er sei in die Gegend um Hannover gezogen. Das ist mein einziger Anhaltspunkt.
    Sein Nachname ist selten, und bei meiner Suche im Internet taucht er irgendwann im Gästebuch einer Freiwilligen Feuerwehr auf.
    Ich schreibe – und finde tatsächlich seinen Enkel, mit dem ich ins Gespräch komme!
    Zum ersten Mal sieht Oma jetzt ein Foto ihres Vaters, erfährt von seinem Leben, und, dass sie Geschwister hat.
    Sie lernt ein wenig den Mann kennen, der ihr Vater war. Ein Flugzeugbauer. Ein passionierter Kaninchenzüchter. Ein liebevoller Vater.
    Aber das Band ist dünn, das Interesse auf der anderen Seite verhalten.
    Und doch – für sie ist es ein wichtiger Moment in ihrem Leben, der etwas in ihr wieder ganz werden lässt.
    Mit ihren Gedanken dazu hält sie allerdings hinter dem Berg und spricht nur akzeptierend darüber, dass sie „die anderen“ ja nicht belästigen will. So ganz glaube ich ihr nicht. Aber ich höre auf zu fragen.

    Das Erbe dieser Geschichten

    Ich habe in den letzten zwanzig Jahren viel erfahren und geforscht – und noch mehr nachgedacht.
    Je älter ich werde, desto mehr verstehe ich: Diese Frauen haben alle mit sich, dem Frau-Sein, dem Leben gekämpft. Nicht immer auf die schönste Weise, aber mit allem, was sie hatten, für ein besseres Leben.
    Lina. Helene. Meine Oma. Drei Generationen Frauen, die in schwierigen Situationen alleine dastanden – und weitermachten. Ich habe großen Respekt und fühle mit ihnen, wenn ich mich in die Situationen eindenke. Das waren nicht alles alte Frauen, die man weißhaarig aus Alben kennt. Es waren Kinder, Mädchen, Frauen mit Träumen und mit Verlusten.

    Ich kann das Erbe dieser Lebensgeschichten in den Frauen meiner Familie erkennen.
    Es sind gute und nicht so gute Eigenschaften, die aus diesen Erfahrungen erwachsen können.
    Sie machen uns vielleicht stärker, unabhängiger, lassen uns manchmal aber auch jäh und unnachgiebig wirken.
    Meine Mama, meine Schwestern und ich – wir alle haben Anteile davon.

    Meine Oma zum Beispiel hatte Charakterzüge, die mich geärgert haben, sobald ich alt genug war, sie als Person unabhängig von ihrer Rolle als meine Oma wahrzunehmen.
    Sie war sehr ich-bezogen und bedacht darauf, sich ihre Vorteile zu sichern. Auch sie gönnte sich gerne etwas – und anderen nicht so gerne.
    Auch die Art, wie sie die Liebe zu ihren Kindern und Enkeln zeigte, war nicht selbstlos, sondern oft verbunden mit ihrem Bedürfnis nach Gegenbeweisen.
    Im Alter und mit Demenz war es manchmal sogar schwer zu ertragen, dass sie sich auch dann noch benachteiligt und ungeliebt fühlte, obwohl sich der ganze Alltag meiner Mutter und ein Großteil ihrer Aufmerksamkeit um sie drehte.
    Nicht ein einziges Mal hat meine Oma sich in dieser Zeit dankbar oder zufrieden gezeigt mit dem, was ihre Tochter geleistet hat.
    Jeder erfüllte Wunsch besaß weniger Gewicht als das, was sie offensichtlich vermisste.
    Ich war ihr wirklich gram in dieser Zeit – und tat mir schwer, die Liebe aufzubringen, die ich eigentlich für sie hatte. Und jetzt auch wieder habe.

    Wie das Verzeihen möglich wurde

    Obwohl ich ihre Geschichte auch in dieser Zeit schon weitestgehend kannte, konnte ich ihr Verhalten erst wieder verzeihen, als sie schon einige Jahre gestorben war.
    In der Rückschau tut sie mir vor allem leid: Das kleine Mädchen, das mit einer Mutter aufwuchs, deren Werte sie sehr schnell ablehnte.
    Das Mädchen, das vor allem Verzicht und Entbehrung erfahren hat, und das sich erst als erwachsene Frau mittleren Alters einen Lebensstandard erschaffen hatte, den wir heute als üblich betrachten:
    Mit eigenem Wohnraum, warm und gemütlich, mit ein paar Annehmlichkeiten, gewissen Absicherungen und etwas Erspartem.
    Kein Wunder, dass es ihr so extrem schwergefallen ist, als alte Frau ihr selbstständiges Leben in ihrer eigenen Doppelhaushälfte mit ihrem geliebten Garten einzutauschen gegen ein Zimmer in unserem Haus.
    Es ist gut, dass ich wieder „gut“ mit ihr bin.

    Ihren Schmuck hat Oma noch zu Lebzeiten an ihre Enkelinnen verteilt. Nach ihrem Tod habe ich den alte Holzlöffel zu mir genommen, und rühre damit noch heute meine Soßen an.