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Biografiearbeit in der Pflegefamilie

Die deutsche Standardfamilie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern bildet längst nicht mehr die Realität vieler Kinder ab.
“Familie” kann vieles sein, und nicht immer sind es nur biologische Verbindungen, die uns zu einer machen, sondern tragfähige Beziehungen und ein Ort, an dem man sich angenommen und gesehen fühlt.

Ab und zu passieren in Familien Katastrophen. Es kann zu längeren Krisen, Beziehungsabbrüchen und Verlusten kommen, die manchmal zu großen Veränderungen für die Kinder führen.
Vielleicht wohnen Sie nur noch bei einem Elternteil oder bei den Großeltern, oder wechseln gleich als Pflegekind oder durch Adoption in ein ganz neues Familiensystem – und bleiben doch mit dem alten verbunden. In diesen miteinander verworrenen alten und neuen Beziehungsgeflechten ist es dann oft schwierig, sich zurechtzufinden und die Brüche zu verarbeiten. Dabei benötigen sie umsichtige und einfühlsame Begleitung und im besten Fall neue, tragfeste Bindungen.

“Bin ich Spreu oder bin ich Weizen?”

Fragen zu Identität und Zugehörigkeit spielen eine starke Rolle im Leben aller Menschen, besonders aber, wenn deren Biografie durch viele Veränderungen und komplizierte Beziehungen geprägt ist. Das Erleben von Kindern wird zusätzlich oft durch verwirrende Signale oder uneindeutige Aufträge beeinflusst. Gerade in Pflegefamilien geraten Kinder häufig ganz ungewollt in Loyalitätskonflikte zwischen ihren Gefühlen zu ihren Eltern und den Pflegeeltern: Darf man alle gleich lieb haben? Ist das ok, meine leiblichen Eltern zu lieben, obwohl sie offensichtlich Fehler gemacht haben? Bin ich schlecht, weil sie Schlechtes gemacht haben? Zu wem sag ich “Mama”… und zu wem nicht. Verletze ich dadurch jemanden?

Fehlende Information über die Vergangenheit und die Umstände, die zu den Veränderungen geführt haben, verleiten außerdem zu Interpretationen, in denen Kinder sich häufig eine (Mit)Schuld an den Krisen geben. Und außerdem neigen einige Kinder dazu, diese Gedanken bei sich zu behalten und nicht mit Erwachsenen zu besprechen. Es bedarf da einer tiefgehenden Vertrauensbasis und möglicherweise einer sanften Aufforderung im richtigen Moment.

Viele Pflegefamilien schaffen diese Basis mit den Kindern, die oft aus Situationen zu ihnen kommen, in denen Vertrauen und Offenheit keine sinnvollen Strategien waren. Sie bilden über Monate und Jahre einen Rahmen, in dem emotional verwirrte Kinder die Möglichkeit finden, geschützt die eigene Vergangenheit zu betrachten und Interesse für ihre Herkunft zu entwickeln, um sie für sich neutral und im besten Falle positiv bewerten zu können.

Die eigene Geschichte und das Erlebte sind die Basis der Identität, und sie darf von uns Erwachsenen nicht hinter zu viel Fürsorge verborgen werden, um das Kind vor der eigenen Trauer oder Wut zu bewahren.
Nur mit all unseren Facetten sind wir ganz und können wir schillern – und das soll jedem Kind gegönnt sein, damit aus ihm kein Erwachsener wird, der erst später, nach einem halben Leben voller Schräglagen, seine Schäden mühsam suchen muss, um sie akzeptieren zu lernen.

5 Tipps für Biografiearbeit mit einem Pflegekind

Um das Leben in den Herkunftsfamilien und das Leben in der neuen Familie wertfrei betrachten und für sich einordnen zu können, hilft den Kindern die Biografiearbeit, in der in langsamen Schritten und auf Augenhöhe mit allen Beteiligten der bisherige Lebensweg des Kindes nachvollzogen wird. Dabei werden alle leichten und schwierigen Stationen des Weges sensibel thematisiert und aufgearbeitet. Ebenso wird der Blick aber auch auf die Stärken und guten Familienmomente in der Herkunftsfamilie gelegt, wie auf die positiven Veränderungen, die das Kind durch die Aufnahme in die neue Familie erfahren hat.
Am Ende soll ein möglichst komplettes Bild der Vergangenheit gezeichnet sein, das keinen Raum mehr für Interpretationen lässt und eine Basis für ein gesundes Weiterwachsen liefert.

1. Sei aufmerksam

In vielen Fällen ergibt sich Biografiearbeit ganz spontan aus den Situationen heraus. Das heißt, das Kind wählt selbst, wann es eine konkrete Frage stellt: zum Beispiel im Spiel mit anderen Kindern oder in einer Fernsehserie, wenn es etwas bemerkt, das in seinem eigenen Leben anders war oder ist. Nutze diese kleinen Aufforderungen für kurze Gespräche, die nicht überfordern. Dränge das Kind nicht – es soll Lust haben auf diese Gespräche und möglichst Sicherheit darin gewinnen, dass solche Themen sie nicht überfordern.

2. Sei wohlwollend

Dein Kind hat ein Recht darauf, die eigene Geschichte – bei aller Wahrheitstreue – so positiv wie möglich zu erleben. Wahrscheinlich wird es in der Vergangenheit Dinge gegeben haben, die man nur schwer “schönreden” kann, aber man hat oft Möglichkeiten, Sachverhalte so zu formulieren, dass sie besser verdaulich sind. Es macht einen großen Unterschied, ob ich als Kind hören muss: “Deine Mama hat nix auf die Reihe gebracht und dich einfach im Stich gelassen!” oder ob ich gesagt bekomme: “Deine Mama hat bestimmt ihr Bestes versucht, und trotzdem hat sie es nicht ganz geschafft gut für dich zu sorgen. Deshalb wohnst du jetzt bei uns, damit es dir gut geht.

3. Sei neutral

Sicher ist es schwierig, das Verhalten der leiblichen Eltern deines Pflegekindes nicht zu kritisieren, wenn diese so schlimme Fehler gemacht haben, dass es herausgenommen werden musste. In der erweiterten Herkunftsfamilie wird es möglicherweise Personen geben, deren Einfluss du dein Kind nicht aussetzen möchtest, oder ein Umfeld, das du dir für das Kind nicht wünschst.
Versuche vor deinem Pflegekind dennoch wertfrei über die Herkunftsfamilie zu sprechen, denn genetisch sind dort seine Wurzeln. Das Kind IST genetisch 100% Teil dieser Familie. Und wie soll dein Kind für sich interpretieren, wie du selbst zu ihm stehst, wenn es aus so verachtenswerten Verhältnissen stammt. Wie kann es glauben, dass aus ihm etwas “Gutes” werden wird, wenn die Ausgangslage doch so ein Desaster ist.

Gib deinem Kind in der Biografiearbeit die Chance, aus seiner Herkunft alles Positive zu ziehen, was es dort zu finden gibt. Ganz sicher hat die Herkunftsfamilie Stärken und Fähigkeiten, und du kannst mit dem Kind aufspüren, welche Schätze verborgen liegen.

4. Sei offen und neugierig

Möglicherweise kennst du nur einzelne Mitglieder der Herkunftsfamilie, oder sogar niemanden. Also musst du dich zum Forschenden in der Angelegenheit deines Kindes machen. Dein Kind hat vielleicht schon mehrere Stationen hinter sich, und jedes Mal waren dabei auch Personen beteiligt. Es gilt, diese ausfindig zu machen und zum Austausch einzuladen – offen und am besten ohne Berührungsängste. Dies können neben den Familienmitgliedern deines Pflegekindes auch Mitarbeiter:innen in den Jugendämtern, Vormünde oder Pädagogische Fachkräfte in stationären Einrichtungen oder Tagesstätten sein. Versuche Kontakt aufzunehmen und schau, was sie berichten können (und dürfen – gerade bei Professoinellen spielt der Datenschutz eine große Rolle). Lass dir Fotos zeigen, die dein Kind in einem Alter zeigen, in dem du es noch nicht kanntest, und speichere sie mit Kommentar für später ab.

5. Dokumentiere

Dein Pflegekind ist vielleicht noch zu klein um zu schreiben, insbesondere aber zu jung, um die Biografiearbeit in seiner Tragweite zu erfassen, und noch nicht strukturiert genug, um alles Erfahrene zu dokumentieren. Dein Auftrag ist es also, alles, was ihr findet an Fakten, Geschichten und Erinnerungsstücken zu sammeln und so zu bewahren, dass das Kind später damit etwas anfangen kann. Das kann ein Skizzenbuch sein, in dem ihr Geschichten und Erinnerungen als Bild oder als Text festhaltet, oder eine Box, in der sich alles über die Jahre sammelt, oder auch ein professioneller Ordner mit Vorlagen, die euch einen roten Faden zur Orientierung vorgeben. Die Art der Dokumentation orientiert sich auch sehr am Kind. Malt es gerne? Oder spricht es lieber, und du verfasst im Nachgang Texte dazu? Ein Fotoalbum, in dem wichtige Begegnungen/Personen mit kleinen Texten versehen angeschaut werden können? Der Kreativität sind da kaum Grenzen gesetzt.

Lass dir helfen

Ich bin Therapeutin und gleichzeitig mit vollem Herzen Pflegemama. Ich weiß deshalb von innen und von außen, was es bedeutet, ein Kind mit zwei Familiensystemen zu begleiten.
Es ist manchmal eine organisatorische, häufig aber auch eine emotionale Herausforderung – und vor allem eine verantwortungsvolle Aufgabe: Neben dem ganz normalen Erziehungsauftrag als Eltern haben wir Themen zu bearbeiten, die normal gewachsene Familien nicht kennen.

Ich kenne diese Themen sowohl aus professioneller wie auch aus privater Sicht, und bin daher die Person, die dir zeigen kann, wie du mit deinem Kind die sensiblen Themen angehen kannst, wie du mit den Herkunftsfamilien in Kontakt kommst, und welche Themen es wert sind, bearbeitet zu werden.

Gemeinsam zeichnen wir den roten Faden, der dein Kind anleiten wird, eine starke, selbstbewusste Persönlichkeit zu entwickeln.

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